Survival-Tagebuch 2004 - 10. Im Strudel der Gedanken

Survival Notnahrung Weidenröschen Wurzeln. Wildkräuter.
Eine Pfanne Weidenröschenwurzeln

Obwohl das Angebot an Notnahrung immer vielfältiger wird, quält mich der Hunger. Nicht im Magen, sondern im Kopf.

 

Ich verwende zum ersten Mal wieder meinen Schlafsack, entgegen meinen selbstauferlegten Regeln. Nicht frieren zu müssen ist ein himmlisches Gefühl!

 

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Survival-Tagebuch 2004.

Im Strudel der Gedanken

Es ist mir auch auf späteren Touren immer wieder aufgefallen: Der Aufenthalt in der Natur, die Abwesenheit von Zivilisation und die körperliche Anstrengung wirken zunächst sehr anregend, später reinigend und klärend auf die Gefühls- und Gedankenwelt. Ich nenne diese Art von Gedankenströmen "Tourgedanken".

 

Ich merke es schon, wenn ich einen Tag wandern bin: Nach einigen Stunden entwickel ich sehr kreative und zukunftsorientierte Gedankengänge zu allen möglich Themen. Zur Arbeit, meinen Hobbies, zu Plänen für meine Zukunft, ich schmiede Pläne zur Rettung unseres Planeten. Dabei fühlen sich all diese Einfälle sehr energetisch an und ich würde am liebsten sofort damit beginnen sie in die Tat umzusetzen. Auch dieser Blog ist einem "Tourgedanken" entsprungen.

 

Auf meiner Survivaltour war es allerdings extrem. Ich hatte das Gefühl, dass sehr viel Gedanken- und Gefühlsmaterial hochgewirbelt und aufgearbeitet wurde, was vor allem anfangs unangenehm war. Im Fokus standen meine sozialen Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden. Aber auch mein bisheriger Lebensstil bzw. Lebensstandard wurde von mir selbst immer mehr hinterfragt.

 

Wie schon gesagt, war es zunächst unangenehm und ich konnte mit dem Gefühls- und Gedankensturm nicht gut umgehen. Im Laufe der Tage habe ich immer mehr Bewältigungsstrategien entwickelt und gelernt dieses "Mehr" an Denken und Fühlen für mich zu nutzen. 

 

Geholfen haben mir vor allem Gleichförmigkeit und Routine, ein klares und sauberes Umfeld und das Tagebuchschreiben. 

Aus meinem Tagebuch:

Mittwoch: 18.8.2004 


"Ich weiß nicht wie oft ich es schon gesagt habe und wie oft ich es noch sagen werde. Aber es ist acht hart hier zu leben! Ich weiß sowieso nicht genau was ich schon einmal alles erzählt habe. Aber ich denke es macht auch nichts wann ich von manchem zweimal berichte. 
Letzte Nacht habe ich ja in meinem Schlafsack geschlafen. Es war so wunderbar warm und erholsam! Allerdings hat es die Nacht durchgeregnet und irgendwann durchgehend auf meinen Schlafsack getropft. Nervtötend.
Heute Morgen habe ich mir dann einen Tee gemacht und meinen Schlafsack während einer Regenpause zum trocknen rausgehängt. Feuerholz holen war die nächste Aufgabe. Nicht einfach nach einer Regennacht!  

 

Gerade war ich Moltebeere essen. 540 Stück. Ich hab’ sie gezählt. Ich glaube das mach ich zukünftig beim sammeln: Zählen. Dann kann man nicht so viel denken. Das ist nämlich eines meiner Hauptprobleme hier. Dass ich so viel Zeit zum nachdenken habe. Es ist egal welche Art von Arbeit ich mache, mein Kopf quält mich dabei. Ich wälze alte Erinnerungen auf, gehe die Vergangenheit durch, singe My fair Lady Lieder und denke an Argentinien. Reichen die Kalorienmengen der Hasenfleischrationen überhaupt? Nie im Leben! Was kann ich dagegen tun? Nichts!
Ich führe öfters Selbstgespräche. Über alles Mögliche. Am Anfang macht es einem ein bisschen Angst. Man fragt sich: Bin ich schon verrückt geworden? Hat das bisschen Einsamkeit schon gereicht, um meinen Geist total zu verwirren? Aber dann kommt man zu dem Schluss, dass es ganz normal sein wird. 
Was mir derzeit noch mehr Schwierigkeiten bereitet ist Essen! Ich habe eigentlich nur geringen Hunger, aber es ist wieder der Kopf der einen an etwas zu essen erinnert. Dann male ich mir ganz genau aus was ich essen werde wenn ich wieder gerettet bin und mache mir schon Sorgen ob mein Geld für so viel Döner, Pizza und Kaffee überhaupt reicht. Letzte Nacht habe ich von Hannes geträumt. Und was hat er gemacht? Genau. Er hat mich mit zu seiner Freundin genommen, die eine Pizzeria hat und dann haben wir Pizza auf seine kosten gegessen. Ich glaube ich werde ihn mal fragen, ob er mich nicht zum Pizzaessen einladen will.
Es fällt mir hier sowieso schwer keine Dönergeld-Spenden-Aufrufe zu machen. Ich war eben nochmal Holz holen. Die Sonne ist am untergehen und ich koche auch schon mein Abendessen: Gekochtes Hasenfleisch mit Sauerampfer, Weidenröschen und Löwenzahn gewürzt. Was auch sonst? Es ist schon wieder sehr kalt und ich wünsche mir noch ein paar Kleider. Aber nur an zweiter Stelle. An erster steht gerade das Essen. Es ist gar nicht so, dass ich wie ein wilder Blätter und Wurzeln sammel. Die schmecken furchtbar. Auch Rinde habe ich noch keine gegessen. Vielleicht bin ich einfach zu faul sie zu sammeln und zuzubereiten.  

 

Ich habe heute schon die Kerben an meinem Stock gezählt und gehofft, dass es plötzlich eine mehr geworden ist! Aber es sind und bleiben sieben Stück. Erst morgen früh, direkt nach dem Aufstehen werde ich die achte Kerbe machen.
Ich vermisse zurzeit meinen Vater Lüder besonders. Ich habe meinen Feuerstein nach ihm benannt, weil er der erste war der mit mir Feuer gemacht hat."


Ich bin alleine ausgezogen,
um zu leben in der Natur.
Alleine.
Alleine ausgezogen in die Natur, 
um zu sehen wie schön sie ist.
Alleine.
Alleine ausgezogen,
um zu spüren wie hart sie ist.
Alleine.
Alleine ausgezogen,
um etwas zu finden?
Ganz alleine?
Ich bin alleine ausgezogen,
um mich zu finden.
Deshalb bin ich alleine.


Ich werde bei Gelegenheit gesondert über die "Tourgedanken" schreiben und werde dabei auch auf den sogenannten "Geist des Aufgebens" eingehen.

Meiner Erfahrung nach begünstigen unter anderem folgende Umstände den Strom der "Tourgedanken":

  • Möglichst unbekanntes und naturnahes Umfeld
  • Erlebnisse/Tätigkeiten außerhalb des eigenen Alltages (um das Wort Comfortzone zu meiden)
  • Lang anhaltende, sich wiederholende Bewegungsformen (Laufen, Wandern, Rudern...)
  • Geringe Anzahl persönlicher Gegenstände
  • Reduzierte/eintönige Nahrung
  • Körperliche Anstrengung und Strapazen
  • Keine oder zumindest schweigsame Gesprächspartner

Für den ungeduldigen Abenteurer, der die nächste große Tour nicht abwarten kann, empfehle ich einfach eine ausgedehnte Wanderung oder sogar eine Nachtwanderung. Alleine, nur Wasser, kein Licht und ein Leichter Rucksack. Keine Musik/Kopfhörer. Und bei einem angenehmen und gleichmäßigen Tempo nicht zielgerichtet nachdenken, sondern die Gedanken treiben lassen. Der Strom der Tourgedanken wird dich mitziehen.

 

Über Erfahrungsberichte freue ich mich natürlich!

Die Fortsetzung der Artikelserie findest du hier:

Survival-Tagebuch 2004 - 11. Ein unerwarteter Besuch

 

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